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Geleitwort zur Kassation für 5 Bläser, Klavier und Streicher

 

"Im Anfang war das Wort . . ." - diese bekannte Behauptung, mit der das Johannes-Evangelium beginnt, ist ohne weiteres zu akzeptieren, sofern man ein Normalsterblicher oder aber der Heilige Geist oder, falls es sich um das gedruckte Wort handelt, beispielsweise ein Bibliothekar ist. Für alle Komponisten jedoch ist diese Behauptung unwahr und unvorstellbar. Für sie ist nicht nur "im Anfang", sondern auch in der Mitte und am Ende aller Existenz ein Ton, ein Klang, eine Kombination von Klängen. Die Klangkombinationen sind aber mit Worten nicht einzufangen, weil Wortbedeutungen - trotz unzähligen Vernebelungen - noch viel zu eindeutig sind. Klangkombinationen können jedoch vollkommen ambivalent, ja mehrdeutig sein. Die Musik kann deshalb mehrere Stimmungsschichten gleichzeitig transportieren. Es hängt dann natürlich viel von der persönlichen Laune, Disposition oder Präferenz des Zuhörers ab, welche Bedeutung und Auslegung ihr letztlich blüht, welche dieser Schichten er als hauptsächlich bestimmen, fühlen, erkennen oder anerkennen wird.
Am Anfang dieser Komposition stand allerdings tatsächlich ein Wort. Als mich ein Freund, der gerade Direktor der Städtischen Bibliothek in Proßnitz geworden war, um einen musikalischen Beitrag anlässlich eines Festabends zum hundertjährigen Gründungsjubiläum dieser Einrichtung bat, sagte ich spontan zu. Ich überlegte auch sofort, welche Form so ein Beitrag haben sollte: etwas Kleines, Feines, Luftiges, die Zuhörerschaft, welche natürlich nicht vorrangig aus hartgesottenen Konzertbesuchern zusammengesetzt sein wird, nicht über Gebühr Strapazierendes - eine Kassation eben! Diese Bezeichnung, welche sofort mit einer vorklassischen, niedlich altertümlichen Petitesse in Zusammenhang gebracht wird, ruft im Tschechischen außerdem noch einige herrliche Klang- und Bedeutungsassoziationen hervor. "Kasace" erinnert beispielsweise an "kasat se", was "prahlen" bedeutet, die ältere Form "kasací" an die schöne und recht unübersetzbare Lautmalerei "kasa cink" ("Kassengeklingel").
Nachdem ich in einem Musikwörterbuch die Definition der Kassation als "ein heiteres Instrumentalständchen" fand, stand der Entschluss zu dieser Form der musikalischen Feier fest. Die kompositorische Heiterkeit am Ende des zweiten Jahrtausend unserer Zeitrechnung ist freilich nur bedingt möglich. Das Komponieren ist ja ein immerwährender Prozess der geistigen Auseinandersetzung mit der Welt und jede Komposition liefert auf ihre Art einen Beleg dafür. Der Geist ist heute schwer angeschlagen und Heiterkeit und Lauterkeit äußern sich in der Kunst meist nur noch mit entsprechender Würze der Verzweiflung und Trauer. Das Lachen verwandelt sich rasch zu burlesker Grimasse. Trotzdem habe ich versucht, auch einmal lustig zu sein, sah jedoch meine Aufgabe nicht ausschließlich darin, eine Art Pausenclown zu sein. Es sollte mir erlaubt sein, bei dieser Gelegenheit dem geneigten Publikum die Einsicht in die gesamte Bandbreite meiner musikalischen Artikulationsversuche zu gewähren. Wohlbehagen zu verbreiten wird dann ohnehin schnell unwichtig, sobald im Kopf des Komponisten der erste Ton oder Akkord einer neuen Komposition auftaucht: Fortan ist nur noch der Musik und ihren - für jeden Komponisten natürlich etwas unterschiedlichen - Gesetzmäßigkeiten zu dienen. Das Diktat der künstlerischen Notwendigkeit wird übrigens im Bereich der Unterhaltungsmusik, in dem man genormt "Wohliges" a priori erwarten könnte, gnadenlos durch Gesetze des Marktes ersetzt. Und diese sind - ich spreche aus eigener dreißigjähriger Erfahrung! - seltsamer Weise noch weitaus konfuser, nebeliger und schwerer zu erfassen, als diejenigen der subjektiven artifiziellen Bedürfnisse. -
In einigen wenigen Tagen war dann leider das große Vergnügen verflogen, die Komposition war geboren. Während der Partiturreinschrift, die notwendiger Weise noch wochenlang nach dem kritisch-genüsslichen Betrachten des Neugeborenen verlangt, kommt man natürlich in Versuchung, die Musik erklären zu wollen, sie für den bequemeren Konsum mit Hilfe mehr oder minder origineller Überschriften zu domestizieren. Der erste Satz hat etwas trotzig Lärmendes und geht in beinahe orientalische Melismen über: es wäre zu lustig, ihn deshalb etwa "Furiant junger Kapitalisten" zu nennen. Der zweite Satz, beginnend mit langen Verflechtungen leiser Dissonanzen, die schließlich mit einer choralartigen Trompetenmelodie überstrahlt werden, wäre vielleicht mit "Ein himmlischer Trost: Der Sonnenuntergang über einer Mülldeponie" zu bezeichnen. Die Überschrift des dritten Satzes könnte zum Ausdruck bringen, dass mich eine durch seine Musik evozierte Vorstellung köstlich amüsierte: ich versuchte mir die himmlische Begegnung von Miles Davis und Arnold Schönberg, zweier eitler und grantiger Greise und göttlicher Musiker, auszumalen. Ob sie miteinander musizieren würden? Als schöne, jedoch falsche Fährte wäre beim vierten Satz zu erwähnen, dass ich bei seiner Niederschrift stark an Bohuslav Martinů dachte. "Blühende Wiesenpracht und Verbeugung in Polička" wäre sicher ein schöner, geheimnisvoller Titel. Dass der große Tumult des Finalsatzes in einem Mahlerschen Zitat gipfelt (dem "Mystischen Chor" aus der 8. Symphonie, in dem die Schlusszeilen von Goethes Faust gehaucht werden: "Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis ..."), und damit in einem (beinahe) tonalen Memento demütig an alle unerforschbaren Daseinsgeheimnisse hinweist, das wäre natürlich auch mit der Satzüberschrift anzudeuten. Allein: diese Bezeichnungen haben durch die Reihe einen schweren Fehler. Sie sind - allen Vernebelungen zum Trotz - zu eindeutig, zu plump und zu unrichtig. Selbst ihre strenge Reduktion auf Bezeichnungen wie "Furiant", "Elegie", "Intermezzo" oder "Notturno" wäre noch überflüssig. Wer Ohren hat, wird - hoffentlich! - hören. Und keine Worte brauchen. Weder im Anfang, noch am Ende ...

Karel Řičánek

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